"Der Maiworms Hannes“

 

Eine Erzählung aus der Nachkriegszeit in Saarlouis – Roden (von Walter Schmolenzky)

 

Angeregt durch die vielen Presseberichte über das „Bundeshäuschen“ in Bonn, einem Getränke- und Zeitungskiosk aus den 1950-igern Jahren, den man inzwischen sogar unter Denkmalschutz gestellt hat, erinnerte ich mich daran, dass auch wir in Roden einen ähnlichen Kiosk besaßen. Das Holzbüdchen stand auf dem Bahnhofsplatz, und zwar an der Straßenbahn-haltestelle der Linie 1. Was das „Bundeshäuschen“ in Bonn für die Abgeordneten und Minister war, die hier ihre Zeitungen und Tabakwaren kauften, war für die Rodener der Verkaufskiosk am Bahnhof.

 

Zugegeben: Das Holzbüdchen mit dem Bundeshäuschen zu vergleichen, dürfte ein wenig weit hergeholt sein und ich räume gerne ein, dass es in Roden sicherlich bedeutendere Bauwerke der Zeitgeschichte gibt, über die es sich eher lohnen würde zu berichten. Dennoch möchte ich diesem kleinen Zeitungs- und Verkaufsstand aus den späten Nachkriegsjahren und seinem Betreiber, einem Rodener Original, dem „Maiworms Hannes“, ein paar Zeilen widmen:

 

Das kleine, aus Restfarben, weiß-blau gestrichene Holzbüdchen mit der farbigen Werbung für allerlei Süssigkeiten und den bunten Zeitschriften, war für uns Kinder ein farbenfroher Anblick auf dem ansonsten von Ruinen und grauen Wohnblocks umgebenen Bahnhofsvorplatz. Oft um-lagerten wir den Kiosk und betrachteten die bunten Auslagen hinter den kleinen Butzenscheiben bis der Hannes es leid war und uns verscheuchte. Hochglanzmagazine der Schönen und Reichen, Illustrierte mit Aufnahmen ausländischer Schauspieler und Sportler zogen uns magisch an. Für uns Kinder und Jugendliche eine unerreichbare Welt. Unsere kleine Welt war die Welt der Süssigkeiten, der Meckos und Lollys, sowie die damaligen Comic`s: Akim, Sigurd, Tarzan, Phantom und die unsterbliche Mickey Maus.

 

Obwohl der Hannes meist mürrisch und griesgrämig war, steckte er uns ab und an ein paar Guuzia (Bonbons) zu, oder schenkte uns ein altes, abge-griffenes Comicheft. So ganz selbstlos tat es das alte Schlitzohr allerdings nicht. Er wusste nämlich genau, dass wir die wenigen Francs, die wir beim Altmaterialsammeln einnahmen, wieder bei ihm ausgaben. Mit einigen von uns hatte er ein Abkommen geschlossen - heute sagt man wohl „Deal“ dazu. Für Comics, die wir gelesen und sauber zurückgaben, erstattete er uns den halben Kaufpreis, um sie anschließend wieder zum vollen Preis zu verkaufen. Waren die abgegriffenen Hefte einfach nicht mehr zu verkaufen, dann verlieh er sie noch für ein paar Franc, bis sie schließlich auseinanderfielen. Nicht nur uns Kinder hatte er mit dieser Masche an sich gebunden; nein, auch Erwachsene gingen ihm auf den Leim.

 

Bei schönem Wetter saß der Hannes meist vor seinem Büdchen. Oft saßen ein paar Rentner auf ihren mitgebrachten Klappstühlen mit in der Runde. Dabei rauchten sie ihre Selbstgedrehten aus getrockneten Tabakblättern (Gewel s. unten!) und tranken dazu ihr Gläschen selbst gebrannten Schnaps. Ab und an spendierte der Hannes aus seinem Bestand eine nachtschwarze Originalzigarette der Marken: Puck und Rotfuchs oder seine Hausmarke. Auch dies geschah nicht ohne Hintergedanken:

 

Der alte Fuchs drehte nämlich auf einer eigens von ihm entwickelten Maschine aus dem minderwertigen Gewel, dem er eine Prise hochwertigen Tabaks beimischte, erstaunlich runde und fest gedrehte Zigaretten, die er unter der Hand als seine Hausmarke unter die Leute brachte. So war er, der Maiworms Hannes, ein Schlitzohr, ein Rodener Original.

 

Die Nachkriegsjahre neigten sich ihrem Ende und der Hannes bekam Konkurrenz. In der Bahnhofshalle wurde ein neuer Kiosk eröffnet und immer mehr Geschäfte führten Zeitschriften und Tabakwaren. Und eines Tages, fast über Nacht, waren der Hannes und sein buntes Holzbüdchen am Bahnhof verschwunden und damit ein Stück Rodener Nachkriegs-geschichte.

 

Anmerkung:

Gewel,“ Bezeichnung für selbst angepflanzten Tabak in der Nachkriegs-zeit, der nach der Ernte in der Regel am Hausgiebel zum trocknen aufge-hangen wurde. „Gewel,“ also abgeleitet von Giebel und wohl von der gelben Farbe der Tabakblätter.