Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit in Saarlouis – Roden

Die Herrenstraße und das Schloss (von Walter Schmolenzky)

 

 

Bei Kriegsbeginn am 1. Sept. 1939 war ich erst wenige Monate alt, so dass sich an diese Zeit und an die Zeit der ersten Evakuierung in Blankenburg im Harz keine Erinnerung habe. Die Erinnerung setzt ein mit den Flie-gerangriffen in den Jahren 1942 – 1944 und mit der zweiten Evakuierung. Naturgemäß haben sich die Eindrücke von Tod und Zerstörung in den darauf folgenden Jahren bis heute eingeprägt.

 

Ich erinnere mich, als sich die Luftangriffe häuften und der Krieg näher rückte, dass ich nachts angezogen im Bett lag. Meine Mutter hatte die wenigen Wertsachen und die wichtigsten Papiere immer griffbereit auf dem Nachttisch liegen. Sobald die Sirenen heulten, rannte sie mit mir und meinen beiden Brüdern, Günter und Hans, in den Luftschutzbunker an der Bahnunterführung am Anfang der Schrebergärten, neben der Gaststätte „Zum Pfälzer Hof“. Häufig waren meine beiden Brüder, die damals zwi-schen dreizehn und siebzehn Jahre alt waren, nicht dabei, weil sie als Luftschutz- oder Flakhelfer eingesetzt waren. Waren die Flugzeuge bereits im Anflug oder die Zeit wurde knapp, dann suchten wir im Keller Schutz. Meistens saßen die Nachbarn aus dem Schloss zusammen in einem Keller. Ängstlich saßen sie beieinander, einige beteten und alle hofften darauf, dass der Angriff bald vorüber sei. Heute weiß ich, dass die alten Gewöl-bekeller unter den Häusern im Schloss keinen ausreichenden Schutz gegen die Bomben geboten hätten. Nach den Angriffen mit Spreng- und Brandbomben gab es erhebliche Zerstörungen und Großbrände, bei denen auch häufig Opfer zu beklagen waren. Mit den verstärkten Luftangriffen und dem Vorrücken der Amerikaner zum Kampf um „Zitadelle von Saarlautern“, erfolgte dann im Spätsommer 1944 die zweite Evakuierung, die uns nach Markdretwitz in Bayern führte. Mein ältester Bruder Hans war zwischenzeitlich eingezogen worden. Da mein Vater in der Dillinger Hütte arbeitete, die als kriegswichtiger Betrieb galt, brauchte er nicht zur Wehrmacht. Später gehörte er dem Volkssturm an.

 

Meine Mutter, mein Bruder Günter und ich, wir waren in Waldershof, einem Ort nahe Marktdretwitz, bei einer Familie mit Namen Wunderlich einquartiert worden. Es war wohl eine nette Familie. Von ihr erhielt ich nämlich zu Weihnachten 1944, mein erstes und auf Jahre hinaus wertvollstes Weihnachtsgeschenk, ein hölzernes Steckenpferd. Ich erinnere mich vage, dass das Haus unterhalb einer Mühle mit einem großen Mühl-rad stand. In der Nähe befand sich ein Bauernhof auf dem meine Mutter und mein Bruder arbeiteten, so dass wir immer ausreichend zu essen hat-ten. Neben all den schrecklichen Kriegserlebnissen habe ich die Zeit während der Evakuierung – wenn auch nur bruchstückhaft - in guter Erinnerung.

 

Im Mai 1945, kurz vor meinem sechsten Geburtstag, kehrten wir nach Hause zurück. Roden, das war für mich zunächst nur ein kleiner Ausschnitt aus der Herrenstraße. Das Schloss, wo mein Elternhaus stand oder das was von ihm übrig war, glich einer Steinwüste. Riesige Schuttberge türmten sich im Schlosshof auf, dahinter die Häuser, größ-tenteils Ruinen. Erwachsene und Kinder standen wie traumatisiert vor dieser Orgie der Zerstörung. In den Trümmern lagen Möbel und Haus-haltsgegenstände. Militärgerät und verkohlte Balken ragten aus den Schuttbergen hervor. Zwischen zerborstenen Bomben und Granaten lag zum Teil noch funktionsfähiges Kriegsgerät und Munition. Laufgräben der Soldaten durchzogen an einigen Stellen das Geröll. Am Straßenrand stand ein ausgebrannter Panzer und im Bierkeller der Gaststätte „Zum Schlosshof“, in dem wir während der Luftangriffe Schutz suchten, lag eine nicht detonierte Fliegerbombe, die erst lange später entschärft wurde. Durch den wochenlangen Häuserkampf waren in vielen Häusern Sprengfallen versteckt und ganze Straßenzüge waren vermint. In diesem unbeschreiblichen Chaos lagen zudem Tote, gefallene Soldaten und Zivilisten. So auch unmittelbar im Nachbarhaus der früheren Schreinerei Schuder. Von den vielen Opfern zeugt noch heute das Ehrenfeld auf dem Friedhof.

 

Wie durch ein Wunder war mein Elternhaus nicht völlig zerstört. Mein Großvater Friedrich Gombert, der wie viele weitere Rodener nicht mit in die Evakuierung folgten, hatte die letzten Kriegswochen bei Verwandten in Falscheid auf dem Hoxberg verbracht. Er und andere Rodener sind un-mittelbar nach den Kampfhandlungen nach Hause zurück gekehrt. Not-dürftig hatte er für die Familie im Haus und im Keller ein paar Räume hergerichtet. Noch heute sehe ich die roten Mohnblumen im verwilderten Garten, die mich magisch anzogen. Meine Mutter hatte mir jedoch strengstens untersagt, den Garten zu betreten, aus Angst vor versteckten Minen. In diesen Tagen sind viele Menschen durch Minen und herumliegende Blindgänger ums Leben gekommen.

 

Nach dem ersten Schock und anfänglicher Resignation stellte sich bei den Erwachsenen so etwas wie Trotz ein und es begann der Wille zu überleben. Es wurde gehamstert, getauscht, organisiert und einiges „mehr“ um ein paar Lebensmittel zu ergattern. Dabei entwickelte mein Bruder Günter, der inzwischen fünfzehn Jahre alt war, ein besonderes Or-ganisationstalent. Kamen meine Eltern oder die Nachbarn, oft nach Tagen, ohne etwas Essbares zurück, so hatte er stets ein paar Kartoffeln oder etwas Brot aufgetrieben. Mit Gleichaltrigen war er ständig unterwegs. Seine Hamster-touren führten auf den Gau und bis weit in den Hunsrück. Es fehlte in dieser Zeit nicht nur an Lebensmitteln und Medikamenten, es fehlte auch an Heizmaterial. Eine Beschaffungsstelle hierfür war die hinter den Häusern im Schloss entlangführende Eisenbahn. Am Ende der Gärten befand sich das Haltesignal zur Einfahrt in den Bahnhof. Hielten hier die Züge an, damals noch dampfbetriebene Lokomotiven, sprangen mein Bruder und seine Freunde auf die Waggons und warfen die Kohle in die angrenzenden Gärten. Später wurde die Kohle in der Nachbarschaft verteilt. Meine Mutter lebte in diesen Tagen in ständiger Angst, weil sie nie wusste, wo und auf welchen Schwarzmärkten mein Bruder sich herumtrieb.

 

Mein Onkel Friedrich, der mit im Haushalt lebte, gehörte dem Minen-räumdienst an. Diese gefährliche Arbeit wurde mit zusätzlichen Lebens-mitteln und sonstigen Zuwendungen entlohnt. Somit trug er entscheidend mit zum Lebensunterhalt bei. In dieser Zeit wohnten übergangsweise weitere Onkels und Tanten mit ihren Familien mit im Haus. Mittlerweile war auch mein Bruder Hans, bis auf eine mittlere Schul-terverletzung, unversehrt aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Zuvor war bereits mein Vater aus dem aufgelösten Volkssturm von Amerikanern freigelassen worden. Wie in den meisten Familien hatte auch die Familie meines Vaters Kriegsopfer zu beklagen. Ein Bruder war in Russland gefallen und zwei angeheiratete Onkel galten als vermisst.

 

 

Bereits im September 1945 wurde ich eingeschult. Die Schule, zugige ungeheizte Räume, befand sich am Bahnhof im Hotel Zimmer. Später wurde hier die Polizeiwache eingerichtet. Anfangs mussten wir Kinder Holz sammeln, damit der Klassenraum geheizt werden konnte. Im Sommer fand der Unterricht im Freien statt. Wir hatten weder Papier noch Bleistifte. Das ABC und das Einmaleins lernte ich auf einem Stück Schiefer, das mir mein Opa zu einer Tafel zurecht geschnitten hatte. Die Hausaufgaben wurden in den Notunterkünften häufig bei Kälte und Kerzenlicht gemacht. Auf Jahre hinaus haben wir Kinder unter diesen Bedingungen gelernt. Obwohl es kaum etwas zu essen gab und unsere Eltern im täglichen Überlebenskampf wenig Zeit für uns Kinder hatten, hatten die meisten von uns später dennoch einen ordentlichen Schul-abschluss. Einige gingen sogar auf weiterführende Schulen und studierten danach.

 

In den folgenden Jahren, während der Französischen Besatzungszeit, wurde das Leben langsam besser, obwohl die Jahre bis etwa 1948 noch durch Hunger und Entbehrungen gekennzeichnet waren. Ich erinnere mich an die erste Friedensweihnacht 1945 und an weitere Weihnachtsfeste, an denen es keine großen Geschenke gab. In all den Jahren lagen fast nur nützliche Dinge unter dem Weihnachtsbaum. Selbstgestrickte Pullover und Strümpfe und aus alten Uniformen geschneiderte Kleidungsstücke. Ein Oberhemd aus Fallschirmseide, das meine Mutter meinem Onkel Friedrich aus Dank für die zusätzlichen Lebensmitteln schneiderte, hatte schon einen Hauch Luxus. Später lag auch schon einmal ein Buch unter dem Baum. „Tausend und eine Nacht“: Die „Geschichten von Sindbad dem Seefahrer“ und „Aladins Wunderlampe“. Südfrüchte, wie Datteln und Feigen, die von den Franzosen nach dem Krieg aus Nordafrika bei uns eingeführt worden sind, lagen unter dem Baum. Die exotischen Früchte, die ich nicht kannte, trugen so geheimnisvolle Namen wie: „Côte-de`Oran, Moroc Dôr“ und ließen mich in diesen grauen Tagen von fremden Ländern und Abenteuern träumen. Nicht nur, dass Hunger und Kälte die Weihnachszeit begleiteten, oftmals kam es zu großen Hochwassern. Ganz schlimm war es um die Jahreswende 1947. Die Saar führte Hochwasser und überschwemmte die Saarwiesen. Die Notunterkünfte, Keller und Baracken auf der linken Straßenseite, standen unter Wasser. Meine Eltern nahmen die Nachbarn Hamann (diese führten früher das Konsum, einen Lebensmittelladen) und Seel, die in den Räumen der ehemaligen Prägeanstalt Redo lebten, auf. Damals eine Selbstverständlichkeit. Man rückte einfach zusammen!

Eines Tages, ich glaube es war das Jahr 1948, kam mein Bruder nicht nach Hause. Auch an den darauffolgenden Tagen und Wochen blieb er ver-schwunden. Meine Eltern waren völlig verzweifelt, hatten sie doch bereits ein Kind, meinen Bruder Erich, durch einen schrecklichen Unfall verloren. Meine Mutter wurde in diesen bangen Tagen von ihren Schwestern regelrecht abgeschirmt. Eine ältere Cousine führte in dieser Zeit den Haushalt. Nach mehreren Wochen standen eines abends meine Großeltern aus der Saarwellinger Straße mit meinem Bruder vor der Tür. Ich habe damals nicht so recht mitbekommen, was sich an jenem Abend ereignete, ich wurde zu Bett geschickt. Erst später erfuhr ich, dass mein Bruder mit zwei Freunden zusammen in die Fremdenlegion wollte. Einer ließ sich anwerben. Mein Bruder und der andere junge Mann hatten sich in Marseille einem Pater anvertraut, der sorgte dann dafür, dass die beiden wieder nach Hause zurückkehren konnten. Dazu muss man wissen, dass während der Französischen Besatzungszeit viele Werber unterwegs waren, die junge Männer unter allerlei Versprechungen für die Legion gewinnen wollten. Später wurde in der Familie über die Jugendtorheit meines Bruders, die auch auch aus der Abenteuerlust geboren war, nicht mehr gesprochen.

 

Mittlerweile war der Wiederaufbau in vollem Gange. Die Römer-bergschule war inzwischen fertiggestellt, sodass wir Kinder aus den Be-helfsräumen am Bahnhof in die neue Knabenschule umziehen konnten. Unsere alte Lehrerin, das Fräulein Hau, wechselte zum Leidwesen einiger Schüler nicht mit in die neue Schule. Meine Trauer hielt sich dagegen in Grenzen. Meine Leistungen, die unter der alten Lehrerin recht bescheiden waren, stieg unter dem neuen Lehrer Darimont zur Freude meiner Eltern an. Obwohl auch er meinte, um es auf den Punkt zu bringen: „Wenn er sich nicht mehr anstrengt, wird es eng für ihn“!

 

Wurden wir Kinder zu Hause bei der Arbeit einmal nicht gebraucht oder hatten uns erfolgreich davor gedrückt, dann spielten wir in den Ruinen und in den Saarwiesen. Dabei waren Winnetou, Tarzan und andere Buch-gestalten unsere Helden und Vorbilder. Sie sorgten in unserer Fantasie dafür, das wir für kurze Zeit unsere nicht einfache Kindheit in der Nachkriegszeit vergessen konnten.

 

In meinem Beitrag: „Die Burrgass und die Saarwiesen“, einer schönsten Spielplätze in Roden, habe ich versucht, diese schönen Stunden ein wenig zu beschreiben.

 

 

 

Nachtrag:

 

Früher, so die Dorfgeschichte, soll in der Herrenstraße in Saarlouis – Roden, wo sich mein Elternhaus befindet, ein Schloß bzw. Herrensitz gestanden haben. Daher die Bezeichnung „Schloss“.